Unter Menschen

Unter Menschen

18. August 2021 1 Von mamalangsam

Mr. Orange

Der Mann betrat unseren Zugwagen. Er war komplett in orange gekleidet, trug lange Haare, seine Stoffmaske unterm Kinn und ob er barfuß war, weiß ich nicht mehr genau, hätte aber gepasst. Da der Zug überfüllt war, bat ihm meine Sitznachbarin ihren Rollstuhl als Sitz an, der gegenüber von uns stand. Also saßen wir nun beisammen: Frau mit Rollstuhl, Mr. Orange, wie ich ihn insgeheim nannte, und ich mit Kind auf dem Schoß. Und dann ging es los, was ich bereits beim ersten Anblick der beiden, der nur so voller Vorurteile meinerseits war, befürchtet hatte. Frau mit Rollstuhl und Mr Orange schienen DAS Gesprächsthema gefunden zu haben: Corona und Maskenpflicht. Ich fragte mich, wie ich so die 3 1/2 Stunden an diesem Platz aushalten soll, denn ich wollte mich doch entspannen und keine Diskussionen hören. “Glücklicherweise“ vertrage ich das Rückwärtsfahren nicht, und bat deshalb Papa Langsam um Platztausch. Er quatscht eigentlich gerne mit speziellen Menschen. Puh. Nach ein paar Stationen ergab es sich, dass Frau mit Rollstuhl ausstieg und Familie Langsam nun vereint sitzen konnte. Mr. Orange, der fast während der ganzen Fahrt über telefonierte (Frau mit Rollstuhl und er hatten doch nicht so lange geredet) und mir nun im Rücken saß, wurde wohl von einigen Leuten sehnsüchtig in Hamburg erwartet. Das erfuhr ich, da seine Gespräche nicht zu überhören waren. Manche Gesprächspartner wurden gesietzt, manche gedutzt. Auf jeden Fall schien dieser Mann wichtig zu sein. Kurz vor Hamburg wurde es allerdings sehr seltsam. Ich hörte ihn sagen: „Ich habe mit deiner Seele gesprochen und ich weiß nun, was gut für dich ist, du weißt es aber noch nicht“ – oder so ähnlich. Gruselig! Wer bitte war dieser Mann? Und was führte er im Schilde? Wir werden es wohl nie erfahren…Unterhaltsam war es trotzdem und irgendwie freue ich mich auch über solche Vögel, denn es macht die Welt bunt, wenn auch ziemlich orange:)!

Ingo

Es war 9 Uhr morgens an einem kleinen Bahnhof in der Nähe vom Strand. Es regnete in Strömen und es gab nur einen Unterstand. Der Zug fuhr erst in einer halben Stunde. Eine Sitzbank wurde von einem Mann belegt, ich nenne ihn „Ingo“. Er lag dort sichtlich alkoholisiert mit einem Schlafsack bedeckt und quatschte uns direkt an. Anscheinend hatte er Redebedarf. Wir haben ein Herz für Menschen, die draußen schlafen und fanden es irgendwie amüsant darauf einzugehen. Er begann zu erzählen bzw. lallen, dass er auf einer Party im Hafen war. Dann hatte er ins Meer gepinkelt, wurde dabei vom Hafenmeister erwischt und der hat ihn des Platzes verwiesen. Ingo war immernoch sehr empört darüber und fand, dass der Hafenmeister total übertrieben gehandelt hatte. Nun lag er also auf der Bank am Bahnsteig, versuchte seinen Rausch auszuschlafen und wartete auf den Zug nach Hause. Wir warteten gemeinsam und er schien sich darüber zu freuen, dass wir ihn – trotz Kindern im Gepäck – wahrnahmen und auf ihn reagierten. Dem Bedürfnis zu schlafen, schien er nicht mehr nachgehen zu wollen. Wir stiegen zusammen in den Zug und beim Ausstieg wünschten wir uns eine gute Weiterfahrt.

Mann und Frau mit Boot

Wir befanden uns in einer überfüllten Regionalbahn. Es schien als ob wir alle getrennt voneinander sitzen müssen, was bei kleinen Kindern nicht so einfach ist, wenn sie teils alleine neben einer fremden Person sitzen müssen. Ein nettes älteres Ehepaar wollte uns helfen, verstaute unsere Rucksäcke, und rückte ein bisschen näher zusammen, sodass wir zu dritt auf einem Platz sitzen konnten und ein Kind sich zwischen die Frau und mich quetschen konnte. So nah beisammen, kann man ja gar nicht anders, als sich zu unterhalten. Wir erfuhren, dass sie unterwegs zu ihrem Boot waren. Dann erzählte Frau mit Boot mir von ihren vergangenen Reisen. Sie sind in Afrika, China und vielen anderen Ländern gewesen. Wir erzählten, dass diese Reise unsere weiteste seit langem war und darüber war sie sehr erstaunt. Mit der Zeit stellten wir immer mehr Unterschiede fest und ich wußte nicht mehr so ganz, was ich von diesem speziellen Paar halten sollte. Naja, irgendwann kamen wir dann doch aufs Thema Corona. Mann mit Boot sagte diesbezüglich irgendwann ernsthaft: „ immer diese ausländischen Familien mit den vielen Kindern, die rumreisen…“ Daraufhin Papa Langsam so: „Ja, also so wie wir“. Ein Mitfahrgast, der vermutlich aus einem afrikanischen Land stammt, lachte auf. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie freute mich das. Ob Mann und Frau mit Boot noch weiter in ihrem Gewässer segeln oder ihren Kurs ändern? Keine Ahnung. Sympathisch waren sie trotzdem, allein deswegen, weil sie dem anderen Fahrgast einen Grund zum Schmunzeln lieferten.

Fräulein Panik

Wir waren wieder im überfüllten ICE. Sitzend betrachtete ich die vielen Menschen, die sich neben uns im Gang stauten. Eine Frau, die in meiner Nähe stand, wirkte sichtlich verängstigt und empört, dass trotz Corona soviele Fahrgäste zugelassen wurden. „Ich krieg fast ne Panikattacke“ sagte sie zu mir. Ich wußte nicht so recht, was ich ihr dazu sagen sollte und zum Glück löste sich der Stau auf und Fräulein Panik ging weiter. Etwa eine Stunde später wurde per Ansage gefragt, ob ein Arzt im Zug sei und dieser bitte in Wagen 7 kommen sollte. Kurze Zeit später stand Fräulein Panik fest entschlossen wieder neben mir und fragte, wo denn Wagen 7 sei. Die Frau schien also eine Ärztin zu sein. Stand sie nicht gerade noch vor einer Panikattacke? Wow, wie stark sie war, dachte ich mir. Eine ängstliche Ärztin, die, sobald man sie braucht alles abstreifte und ihrer Berufung folgte. Kurze Zeit später kam sie wieder vorbei und sagte, dass wohl schon andere Ärzte da waren. Von Angst und Panik keine Spur mehr. Yea!

Warum schreib ich das? Weil ich mich darüber freue, sovielen kunterbunten Menschen begegnet zu sein. Es waren zufällige Begegnungen an teils eher unschönen Orten, unter teils unbequemen Bedingungen, doch in solchen Momenten erlebt man das Leben in all seinen vielen Facetten, nicht langweilig, sondern pulsierend. Man selber tritt einen Schritt zurück und saugt die Gegenwart der anderen auf und lässt sich von den Situationen – auf welche Weise auch immer – inspirieren. Man lässt sich auf die Menschen ein, die so ganz anders und fremd sind, als die in unserer „sozialen Blase“ und schätzt sie, einfach nur weil sie Menschen sind. So oft dreht man sich doch nur um sich selbst, obwohl es so gut tut andere Menschen wahrzunehmen. Also lasst uns die Augen offen halten und die Stöpsel aus den Ohren nehmen: im Zug, an der Bushaltestelle, in der Warteschlange an der Kasse, an der Kindergartentür….Lasst uns die kleinen Begegnungen zu schätzen lernen und die kostbaren Menschen dahinter wahrnehmen, seien sie noch so anders als wir!